letztes Update: 13.07.2023

Die Grauen in Louisas Landschaft

Kennen Sie einen Remote Viewing-Roman? Nein? Warum nicht? Lesen denn Remote Viewer keine Romane? Gewiss, es gibt eine Menge Leute, die nach eigener Aussage nichts als Fachbücher lesen, denen jede narrative Zeile ein echtes Grauen ist.
Vielleicht werden Sie mit Recht einwenden, dass die Mehrzahl dieser Leute Bücher lesen, in denen zwar nicht das Grauen, wohl aber die Grauen vorkommen (wenn auch in der Verbindung mit "klein"), und das wäre doch wohl auch die reinste Science Fiction und schon lange kein Sachbuch mehr. Nun, dem kann man entgegenkommen.
Nehmen wir einfach ein Buch, in dem Remote Viewing vorkommt, in dem merkwürdige Personen ihr Unwesen treiben, Schwarze, Graue und sogar Halbe ... und in dem viel davon verarbeitet ist, was Remote Viewer zu diesem Thema in Sessions gesagt haben. Und weil man selbst als Sachbuchleser auch mitten drin im Leben steht, sind alle diese Informationen mit Personen verknüpft, die damit fertig werden müssen. Vielleicht werden Sie die dann auch etwas mögen.
Karen, die ihr ganzes Leben unglücklich war, weil sie mehr konnte als andere. Robert, der einen verzweifelten Kampf gegen die führt, die er entdeckt hat und in erster Linie Louisa, die nie genau weiß, wer sie ist. In monatlichen Fortsetzungen können Sie sich mit ihnen befreunden. Vielleicht auch mit den anderen Mitwirkenden, ob es sie nun gibt oder nicht. Da weiß man ja nie genau Bescheid. Oder sind Sie wirklich sicher, dass es den amerikanischen Präsidenten wirklich gibt? Haben Sie ihn schon einmal angefasst? Tja, so ist das mit der Realität. Hier nun das zweite Kapitel:

2. DURCH DIE LANDSCHAFT

 

 

Sie fiel rückwärts, der Länge nach, auf die Couch, die mitten im Zimmer stand und starrte an die Decke. Hier sollte längst dieser wunderbare Leuchter hängen, dachte Louisa, und nicht diese nackte Glühlampe, die leicht schwankte und mit ihrem Kabel bizarre Schattenkrakel auf die untapezierte Wand warf. Sie hatte keine Lust, ihren Koffer auszupacken. Neben den Möbeln, die zum Renovieren des Zimmers in die Mitte gerückt worden waren, fiel er überhaupt nicht auf. Louisa registrierte die Kongruenz ihres Innern mit dem Zustand ihrer Wohnung.

Sie seufzte, griff nach einer Decke und hüllte sich, eigentlich eine ganz andere Wärme suchend, bis zum Hals ein.

Nach einer unruhigen, knappen Stunde befand sie, doch nicht schlafen zu können, stand auf und stieß in der Küche auf eine fast leere Tüte Kaffee. Während sich das heiße Wasser zischend und blubbernd in den Filter ergoß, versuchte sie den Ausgangspunkt ihrer Unruhe zu ergründen. Es war auf jeden Fall nicht der Zustand ihrer Wohnung. Der war zwar ärgerlich, aber nicht beunruhigend.

Louisa zog Kreise mit ihren Blicken. Der Gasherd? Nein, alles in Ordnung. Die offene Tür zum dunklen zweiten Zimmer? Blödsinn, da war nichts. Ihr Koffer? Nein, nicht genau...

Die Handtasche! Lisa war sich plötzlich sehr sicher.

Näher heran: die Tasche ihres Handgepäcks aus dem Flugzeug. Sie ging mit schnellen Schritten hinüber und zerrte den Reißverschluß auf. Die Papiere! Die Ordner, die sie dem Koffer ihres Vaters entnommen hatte. Sie fühlten sich anders an, als ihre Umgebung. Bisher hatte sie keinen Blick darauf geworfen, doch jetzt drängten sich die vielen, dicht beschriebenen Blätter förmlich in ihre Hand. Neugierig, aber sehr vorsichtig, klappte sie sie auf.

Während des Rückfluges hatte sie meist nur stumpf vor sich hingestarrt, obwohl, das mußte sie zugeben, Business-Class schon etwas angenehmer war, als mitten in einer engen achtsitzigen Reihe ständig mit dem knapp bemessenen Stellplatz für Füße und Ellenbogen zu kämpfen. Natürlich gab es hier auch Leute, die einen anquatschten, und sie konnte sich undeutlich an bemühte Konversationsfragmente erinnern. Ansonsten hatte sie jedoch ihre geschlossene Tasche umkrampft und ein „sprecht mich bloß nicht an“-Gesicht gemacht.

Erster Ordner. Die Blätter waren irgendwie warm, befand Lisa. „Praktische Anwendung von Fernwahrnehmung, Beispiele und Projektserien.“ Lousia war schlau wie zuvor. Der zweite Ordner, in einem selbstzufriedenen Blau gehalten, fühlte sich ganz ähnlich an. „Fernwarnehmung. Grundkurs und Aufbaustufen.“

Louisa runzelte die Stirn. Was, zum Teufel, war „Fernwahrnehmung“?

Sie holte ihren fertigen  Kaffee, setzte sich im Lotussitz auf die Couch und begann zu blättern. Damit hatten sich Ihre Eltern beschäftigt? Das hätte sie nie von ihrem Vater gedacht. Ihre Mutter, nun gut... Aber ihr Vater schien zu einer Art „Hellsehen“, wie das Vorwort es erklärte, keinerlei Bezug gehabt zu haben.

Fast ungläubig, aber interessiert las sie weiter. Was für eine merkwürdige Geschichte! Ob sie es auch konnte? Es hatte etwas von ihrem inneren Dialog zwischen Lou und Lisa, aber es war anders, kühler, technischer. Eine Anleitung für jedermann, der nicht noch jemand in sich hatte. Was konnte man damit erreichen? Louisa blickte auf. Was hatte ihr Vater damit erreichen wollen? Ihre Eltern hatten nie darüber gesprochen, jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart.

Die Kaffeetasse war leer und kalt und Louisa stellte fest, daß ihr linkes Bein eingeschlafen war. Sie gab ihren Platz auf dem Sofa auf und setzte sich an ihren gähnend leeren Schreibtisch. Aus einem Umzugskarton fischte sie ein paar Blätter Papier und einen Stift und verbrachte die nächsten Stunden mit dem Aufzeichnen merkwürdiger Linien und Figuren. Sie kreiste mit dem Stift auf dem Papier; es war, als ob sie ein Muster durchschritt, ein bißchen schien sich ihre Landkarte zu entrollen, aber nur ein wenig, nein, es war völlig anders. Fasziniert probte sie immer neue Anläufe.

Plötzlich bemerkte sie, daß ein wirklich grauer Hamburger Morgen zum Fenster hereingekrochen war und sie zum Frösteln brachte. Wieder legte sie sich auf die Couch, zog die Decke bis ans Kinn und war sofort eingeschlafen. Und wie sie schlief, träumte sie, so farbig und wirklich, wie es ihr noch nie widerfahren war.

Sie schritt durch ihre Landschaft, gemächlich und entspannt und schaute sorgfältig nach jedem Ding und seinem Platz. Alles schien ruhig und geordnet. Auch der schwarze Fleck war ganz und gar verschwunden, weggespült von ihrer inneren Ordnung. Es war schön so. Und gerade, als sie zufrieden sich abwenden wollte, sah sie es, das Muster, direkt auf ihrem Weg, vor sich liegend.

Die Linie begann kurz vor ihren Füßen, sie sah wie eingraviert aus, eingegrabene, dünne Furchen, manchmal parallel, manchmal ineinander verlaufend. Es bedeckte ungefähr die Fläche eines Hauses. Eines größeren Hauses, verbesserte sich Louisa. Sie versuchte, den Rand auszumachen.

Es war nicht so etwas wie Nebel, das sie an einer genauen Einschätzung hinderte. Es sah unscharf aus, wie der Hintergrund, wenn man mit einer Teleoptik nur auf den Vordergrund schaute. Es konnte sein, daß sich dort, am Ende, etwas bewegte, aber Louisa war sich nicht sicher.

Das war ein weiteres neues Gefühl in ihrer Landschaft. Erst der schwarze Fleck und dann war sie sich nicht sicher! Sie war sich immer sicher gewesen. Es war ihre Landschaft, sie war hier zu Hause. Da gab es keine Unschärfe, immer war ihr alles klar entgegengetreten. Verschwommenes gab es nicht. Entweder es war da oder nicht.

Wieder diese scheinbare Bewegung, schattenhaft, unwägbar. Farbig? Weit entfernt? Wenn sie es nur einschätzen könnte!

Sie konnte natürlich hinübergehen. Es war schließlich ihre Landschaft. Sie gehörte ihr, ihr allein. Sie mußte nach dem Rechten schauen.

Als ihr Fuß die Fläche berührte, zuckte sie sofort zurück. Etwas, einem Stromschlag ähnlich, durchzuckte ihr Bein bis hoch zum Oberschenkel. Louisa staunte und sie begann, ärgerlich zu werden. So etwas hatte es noch nicht gegeben und so etwas hatte es hier auch nicht zu geben. Nichts war richtig.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, setzte sie ihren Fuß auf den Anfang der Linie, wieder diesen unangenehmen Schlag erwartend; aber er blieb aus. Nur ein leichtes Kribbeln war zu spüren, aber das konnte Einbildung sein. Entschlossen zog sie den anderen Fuß nach und stellte ihn weiter voran auf die Linie. Nichts geschah. Außer... das war wirklich dumm, sie hatte das Gefühl, etwas zu bekommen, wie ein Geschenk. Louisa schüttelte ein wenig den Kopf, es war, als würden Bilder wie Fliegen um ihren Kopf herumsummen. Sie zögerte, überlegte, ob sie diese Eindrücke verscheuchen sollte, wollte oder überhaupt konnte. Dann faßte sie sich und schritt voran. Es war ihre Landschaft und sie mußte offenbar etwas tun, damit es ihre bliebe. Vor dem schwarzen Fleck war sie auch zurückgewichen. Sie wollte wissen, was sich drüben verbarg, drüben in dieser ungeheuerlichen Unschärfe. Diesmal würde sie nicht zurückweichen.

Es funktionierte. Etwas passierte. Sie kam der Wand aus Unschärfe näher. Manchmal schien sich etwas darin klar abzuzeichnen, dann wieder verschwand es. Louisa bemühte sich, immer auf der Gravur zu schreiten. Wich sie davon ab, rückte ihr Ziel plötzlich in weite Ferne, verschwand sogar fast. Kehrte sie auf die Linie zurück, war wieder alles da, vielleicht etwas näher, als vorher.

Zunächst schien diese Linie sie direkt zu der Unschärfe hinzuführen, dann jedoch schlug sie einen Bogen, fast in die entgegengesetzte Richtung. Mal fiel es ihr leichter, einen Fuß vor den anderen zu setzen, mal schien sie wie durch etwas Flüssiges zu waten. Wasser? Dann wieder fühlten sich die Schritte hart und und gänzlich unnatürlich an. Und schließlich schien es ihr, als ob sie über eine Wiese liefe.

Louisa folgte dem verschlungenen Verlauf der Gravur, und mit jedem Meter und jeder Drehung schien sie tatsächlich ihrem Ziel näher zu kommen. Sie stellte fest, daß es dort Farben gab. Sie konnte sie jetzt deutlich sehen. Gelb und rot, aber vor allem gelb, grün, verschiedene Töne und Schattierungen. Braun. Dunkelgrau. Sie bewegten sich. Dort war etwas Kleines, Rotes. Und dort etwas Dunkleres. Oben war alles blau, blau wie der Himmel. Und darin eine Struktur, etwas Hochaufragendes, mit einer Bewegung.

Sie war plötzlich am Rand der Gravur angekommen. Die Linie endete abrupt, so wie sie begonnen hatte. Fast stolperte sie, als sie die neue Ebene betrat.

Tatsächlich, um sie herum gelb. Wie ein weites Feld gelber Blumen. Und da war wieder die hohe Struktur, künstlich, wie ein Mast. Glatte, runde Wände.

Louisa sog die Luft ein. Sie hatte diesen Geruch schon einmal wahrgenommen. Blumen? Und da war noch etwas, etwas Salziges. Sie konnte es sogar schmecken.

Wo kam der Wind her? Es war warm, aber der Wind kühlte wohltuend. Louisa fuhr zusammen. Dieses Brummen – hatte sie es schon vorher gehört? Sie war sich nicht sicher, aber jetzt war es da. Es kam von oben. Sie legte den Kopf in den Nacken. Tatsächlich, dort oben, an der Spitze des schlanken Turmes, das Brummen und eine kreisende Bewegung. Ein Propeller! Durchzuckte es sie. Ein Propeller mitten in einem blühenden Rapsfeld.

Sie schritt vorwärts, hinein in die sich weit ausdehnende Fläche gelber Blüten, links vorbei an der Windkraftanlage.

Windkraftanlage?

Der Begriff stand plötzlich mitten in ihrem Kopf und sie schaute noch einmal hoch. Eine Windmühle. Klar und scharf zu erkennen. Plötzlich war sie wieder in einer Landschaft, aber war es ihre? Louisa war unsicher, Lisa hielt sich zurück. Wo war sie hier? Sie drehte sich um.

Das Rapsfeld grenzte an ein Straße. Sie war vielleicht zwanzig Meter in das Feld hineingelaufen. An der Stelle, wo ihre Spur an der Straße begann, parkte ihr Auto.

Ihr Auto? Sie hatte kein Auto, jedenfalls noch nicht. Es war bestellt und sollte in zwei oder drei Wochen geliefert werden. Wenn ihre Wohnung fertig war. Wenn ihre Eltern zurückgekehrt sein sollten. Wenn...

Es war eindeutig ihr Wagen, genauso, wie sie ihn bestellt hatte, leuchtend rot und in der viertürigen Version, weil sie die komplizierten Besteigungs- und Beladungszeremonien von Zweitürern einfach satt hatte. Dahinter parkte ein zweiter Wagen. Louisa fuhr zusammen.

Nein, bei nochmaligem Hinfühlen konnte sie eigentlich keine Gefahr feststellen. Die dunkle Limousine (dunkelblau?) stand einige Meter hinter ihrem Wagen, und es sah so aus, als ob sie selbst als Zweite angekommen war. Sonst wäre der andere Wagen dichter aufgefahren. Also hatte sie angehalten, weil dieser Wagen dort stand. Das bedeutete... Louisa wandte sich wieder dem Feld zu. Warum war sie hier hineingelaufen? Gab es etwas Besonderes in diesem Feld?

„Willkommen in Phase 6!“, sagte eine Stimme, und der Inhaber kam hinter der Windmühle hervor. Sie erkannte ihn, obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte. Er würde ihr noch oft begegnen.

Was für ein Unsinn, dachte Lou für einen Moment, aber Lisa war sich ganz sicher. Für sie gab es keinen Widerspruch. Sie kannte ihn, sie würde ihm noch oft begegnen, aber sie hatte ihn noch nie gesehen. Sie mochte ihn sehr.

Als sie auf ihn zuging, stieg eine angenehme Wärme in ihr auf, eine Vertrautheit, ein Gefühl von Sicherheit. Er lächelte. Sie liebte dieses Lächeln.

Es war ein Lächeln, das sich am Intensivsten in seinen grau-grünen Augen abspielte. Louisa war sich keinen Moment unsicher, welche Farbe sie hatten. Sie wußte es einfach. Sie kannte jede der kleinen ironischen Falten seiner Augenwinkel. Sie wußte, wie ihm seine störrischen Haare in die Stirn fielen.  Sie würde sie oft zur Seite streichen.

Er würde dann sagen, daß Frisur etwas für Schreibtischtäter sei. Und sie würde lächeln und insgeheim beten, daß sie heil aus dieser Geschichte herauskämen. Und er würde ihr sagen, daß genau das auch sein größter Wunsch sein. Und dann huschte ein Bild vorüber, so schnell, daß sie kaum Gelegenheit hatte, Einzelheiten zu erfassen. Sie standen beide auf dem staubigen Boden des Mondes und seine Stimme klang fremd in den Helmlautsprechern; aber diese Verständigung brauchten sie längst nicht mehr. Und wie sie hochschaute, ging über dem Kraterrand die Erde auf.-

Als Louisa erwachte, war es, als müßte sie das Bild ihrer Augen mit dem, was um sie herum existierte, in Deckung bringen. Die Konturen verschoben sich immer wieder; endlich konnte sie sich aufsetzen, ohne schwindelig zu werden.

Was war geschehen? Nein, das war die falsche Frage. Was wird geschehen? Schon besser. Aber es war eigentlich keine Frage. Sie wußte es.

Lisa nickte zufrieden und Lou beschloß, sich auf den Weg zu machen.-

Als Louisa die Treppe zur Wohnung ihrer Eltern hinaufstieg, wurde sie unruhig. Ihr fiel plötzlich ein, daß sie sich nicht erinnern konnte, nach ihrer letzten Anwesenheit den Herd und das Licht abgeschaltet zu haben. Nein, sagte sie sich, das war es nicht. Es war etwas anderes... Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf. Und schon auf dem letzten Absatz wußte sie es genau.

Die Wohnungstür war aufgebrochen worden. Man bemerkte es erst beim Aufschließen, denn Vaters teures Sicherheitsschloß knackte und klemmte, während der Schnapper lediglich eingeklinkt war. Vater hatte sie mit seinem Sicherheitsdenken derart gedrillt, daß sie nie vergaß, vernünftig abzuschließen. Und was das Schloß anging...

-Dieser Bursche hat lange gebraucht und sich richtig geärgert! meldete sich Lisa.

Das Chaos in der Wohnung ließ ihren Magen verkrampfen. Nicht nur, daß man sich keine Mühe gegeben hatte, die intensive Durchsuchung zu verheimlichen; der Ärger, das Gesuchte nicht gefunden zu haben, schrie aus jedem unglücklichen Gegenstand, der seinen rechtmäßigen Platz vermißte.

Louisa versuchte, sich zu bewegen. Nach einer scheinbar stundenlangen Starre brachte sie es fertig, Mutters klagend aufgerissene Handtasche in den Schrank zurückzulegen. Lisa flüchtete sich erschrocken in ihre hinterste Ecke. Lou nahm nur noch den Fetzen einer Information wahr. Einer der beiden Männer, denen sie schon in New York begegnet war, warf die Handtasche mit einem Fluch weit von sich.

Sie werden das Haus beobachten, dachte Louisa plötzlich. Sie war sich ganz sicher über diesen Umstand. Und dann werden sie deine eigene Wohnung auseinandernehmen und sie werden finden, was sie gesucht haben.

Louisa erstarrte.

Dann ging sie langsam zum Fenster und versuchte, hinunter in die Straße zu schauen, ohne selbst gesehen zu werden. Plötzlich kam sie sich albern vor. Es war so typisch. Eine Standardszene. In wievielen Filmen hatte sie diese Szene schon gesehen? So irrational, wie ihr die Situation vorkam, so gefährlich fühlte sie sich an. Sie war in keinem Film. Es war tatsächlich das, was ihr zugestoßen war. Und es machte keinen Spaß. In ihrem Nacken kribbelte es.

Sie brauchte gar nicht die Gardine zu Seite zu ziehen. Sie sah den Lieferwagen sofort. Er sah neu aus, oder mindestens ordentlich gewaschen; und das paßte überhaupt nicht zu ihm. Und er roch unangenehm.

Ohne sich weiter über die Unsinnigkeit dieser Empfindung zu wundern, versuchte sie, einen Plan zu machen. Sie mußte weg hier, der Raum um sie herum begann plötzlich, unangenehm warm zu werden. Konnte man das Haus ungesehen verlassen? Und dann? Wohin?

-Eins nach dem anderen, sagte sich Lou.

- Ich helfe dir, sagte Lisa.

Gab es einen Hinterausgang? Ja, aber der führte nur wieder in ein Haus, nämlich das Hinterhaus. Und dahinter?

-Ein Parkplatz, meinte Lisa. -Dann eine Mauer. Die Mülltonnen. Vielleicht könnte man darüber...?

-Am helllichten Tag? Lou gefiel der Gedanke überhaupt nicht, die Mülltonnen zu ersteigen und sich dann über die Mauer zu schwingen.

-Es wird uns keiner sehen, beruhigte Lisa. -Und zum Hinterhaus können wir über den Boden gehen. Die Türen sind nicht abgeschlossen.

Louisa verließ die Wohnung ihrer Eltern sofort. Sie räumte nichts mehr auf und sie nahm keinen Abschied von allen vertrauten Dingen, die sie vielleicht nie wieder sehen würde. Sie trat hinaus, in Eile aber nicht hastig.

-Sie sind noch unten im Wagen, meldete sich Lisa. -Aber sie passen auf.

Die Treppe zum Dachboden war etwas schmaler. Louisa erinnerte sich plötzlich, wie sie einmal mitgeholfen hatte, einen Schrank ihrer Mutter hinaufzutragen. Er war alt und ließ sich nicht ausreichend zerlegen. Sie eckten überall an, aber Mutter wollte sich nicht davon trennen.  Es war ein Schrank von ihrer Mutter, und er hatte in deren Kinderzimmer gestanden. Als Mutter noch jung war. Louisa Hand wischte eine Spinnwebe zur Seite, eine Geste, die ebenfalls dazu diente, die plötzlichen Erinnerungen zu verscheuchen.

Tatsächlich war die Bodentür nicht abgeschlossen und der alte Schrank stand immer noch hinter der Ecke, die einer der beiden Schornsteine bildete. Die verstaubten Glastüren starrten sie in einer hilflosen Verlassenheit an. Ihr Magen wurde zu einen dicken, verkrampften Klumpen.

-Der eine Mann wird unruhig, meldete sich Lisa. -Ich glaube nicht, daß er Verdacht geschöpft hat. Aber er wird unruhig.

Lou riß sich los. Links entlang, vorbei an den Verschlägen der Nachbarn. Andere alte Schränke, Werkzeug, Kinderspielzeug, deprimierte Überlebende vergangener Sorgen. Nur nichts anfassen, keine Bilder aufnehmen, vorbei, vorbei.

Natürlich war die Lampe kaputt, aber Louisa kannte sich aus. Die hintere Bodentür klemmte etwas, und das Treppenhaus war schmutzig, aber leer. Louisa kannte die Hauswartsfrau flüchtig. Etwas zu dick, um sich gern zu bücken.

-Sie verlassen jetzt doch den Wagen, meldete sich Lisa wieder.

Louisa betrat den hinteren Hausflur.

-Und jetzt?, fragte Lou, -sie werden uns sehen! Alle werden uns sehen, sie werden aus den Fenstern hängen. Alle.

Aber Louisa wußte, daß es keinen anderen Weg gab. Die Mülltonnen wackelten bedenklich, die Mauerkrone bestand aus alten, ausgebrochenen Ziegeln und hätte kein Stück höher sein dürfen. Louisa rutschte etwas unglücklich auf der anderen Seite hinab, der Putz schürfte die Haut auf, etwas an ihrer Jacke verursachte ein häßliches, reißendes Geräusch.

-Sie sind jetzt in der Wohnung. Wenn Lisa eine Stimme gehabt hätte, würde diese jetzt besorgt klingen?

-Sie bemerken, daß jemand da war. Der eine greift um sich. Es ist der Schimmelige. Er greift hierher! Und er riecht furchtbar!

Lou und Lisa schüttelten sich. Sie versuchten, diesem unsichtbaren, geistigen Zugriff zu entgehen, aber sie hatten es mit jemand zu tun, der stärker war. Und der ausgebildet war. Der genau wußte, wie man es tat.

Louisa stand jetzt auf der Straße. Noch bis zur Ecke, dort war die Hauptstraße. Ein Taxi?

-Ja bitte, aber schnell! Doch – ergab das einen Sinn? Die geistigen Finger des Mannes in der elterlichen Wohnung griffen direkt in ihren Kopf. Konnte man solch einem Angriff im eigenen Kopf überhaupt entkommen? Lisa jammerte und wand sich. Lou rannte verzweifelt, aber es schien, als käme sie keine Handbreit voran. Es war wie in ihrem schlimmsten Albtraum. Der Schimmelige ergriff Besitz von ihrem Geist. Von ihrer Landschaft. Von ihrem ganzen Selbst. Sie hatten sich nie so entsetzlich verloren gefühlt.

In diesem Moment flackerte eine Idee auf, ein winziges Glühwürmchen, verzweifelt bemüht, nicht in die alles verzehrende Kerze zu stürzen.

Wie war das, früher, als Kinder, wenn sie Verstecken gespielt hatten? Louisa wurde nie gefunden. Sie gewann immer. Es war, als sei sie unsichtbar. Sie hatte einen Trick-

„Acht, neun, zehn, ich komme!“, kommandierte Lou in Lisas Richtung, aber sie tat es laut. Eine ältere Frau drehte sich überrascht um.

-Acht, neun, zehn, ich komme! wiederholte Lou und endlich regierte Lisa und zog den Vorhang zu. Sie reagierte automatisch, wie in ihrer Kindheit, wenn das Versteckspiel begann und sie abtauchen mußte. Der Erfolg war sofort sichtbar.

Louisa lief ein paar Schritte weiter und es war, als fiele die geistige Hand des Mannes, der immer  noch in ihrer elterlichen Wohnung stand, hinter ihr auf das Pflaster. Louisa starrte sie an, aber niemand schien von dieser Hand Notiz zu nehmen, die sich zuckend und scheinbar suchend auf dem Pflaster wand. Louisa starrte gelähmt auf dieses Schauspiel. Die Frau, die vorher so merkwürdig geschaut hatte, lief genau hinein. Die Hand packte zu. Louisa erschauerte und nur sie konnte sehen, was wirklich geschah. Die Hand kletterte an der Frau empor, senkte sich in ihren Kopf und verschwand. Ihr Körper vollführte eine Drehung und lief direkt auf die Straße.

Der Fahrer des hellgrauen Kombis hatte keine Chance. Als die Bremsen quietschten, lag der Aufprall längst hinter ihm und die menschliche Puppe verrenkt auf dem Pflaster. Es half nichts, daß er wild schreiend die Fahrertür aufriß und um den Wagen herumlief.

Louisa riß sich los. Sie erreichte die Hauptstraße und da war auch das Taxi.

-Das war wirklich knapp!, Lisa hatte sich wieder gefaßt. -Aber es war eine gute Idee. Es liegt so nahe, wir hätten sofort auf unseren alten Trick kommen sollen. Aber er riecht wirklich furchtbar, dieser Eine. Ich war wie gelähmt. Er verschmutzt unsere Landschaft. Es ist besser, er findet eine andere. Wir sollten ihn nicht mehr hineinlassen. Ich werde versuchen, daß wir weiterhin unsichtbar bleiben.

-Und die alte Frau auf der Straße?, wandte Lou ein.

Lisa war wieder ganz ruhig.

-Sie hat nicht gelitten. Sie hat es sich eigentlich gewünscht. Es war nur eine Vollziehung des Schicksals.

Louisa gab dem Taxifahrer die Adresse und sie holten in aller Ruhe die wichtigsten Sachen aus ihrer Wohnung.